Das erste Halbjahr 2022 ist alles andere als erfreulich. Seit dem 3. Januar fällt, mit Ausnahme der Energierohstoffe, so ziemlich alles, was sich in ein Depot packen ließe. Ganz gleich, ob das Portfolio voll ist mit Anleihen, also eher defensiv ausgerichtet ist, oder mit vielen Aktien bestückt und deshalb offensiver positioniert. In den Zeitungen liest man, dass wir uns seit dieser Woche in einem Bärenmarkt befinden. Aber was bedeutet das eigentlich und wie muss man sich als Anleger verhalten? Wir betreiben mal etwas Aufklärung.
Schauen wir uns den S&P 500 Index in den USA an. Dieser umfasst die 500 größten Werte nach Marktkapitalisierung und ist am Montag um mehr als 20 Prozentpunkte vom Höchststand gefallen. Damit befindet sich der US-Aktienmarkt nun „offiziell“ in einem sogenannten „Bärenmarkt“. Zuvor durfte noch von „Korrektur“ gesprochen werden. Die Bären stehen für fallende Kursen an den Börsen und die Bullen für steigende. Aber ändert die Definition etwas? An der Gemütslage der Investoren – oder den langfristigen Kapitalmarktperspektiven? Gehen wir der Reihe nach vor …
Der Zins ist ein wichtiger Indikator für die Finanzmärkte. Je niedriger der Ertrag für defensive Anlagen wie Anleihen ist, desto eher sind Anleger versucht, nach Alternativen zu schauen. Zudem wirkt sich ein tiefer Zins auf die Bewertung von Anlagen aus. Je tiefer der Zins, desto höher der Wert in der Zukunft liegender Erträge, etwa von Immobilien oder Unternehmensbeteiligungen. Es verwundert daher nicht, dass mit immer tieferen Zinsen in den vergangenen Jahren beinahe alles im Preis stieg, was zur Geldanlage taugt.
Seit einigen Monaten wirkt dieser Mechanismus umgekehrt. Schuld ist bekanntlich die Inflation. Die Notenbanken waren lange Zeit der Überzeugung, dass die hohe Inflation nur ein temporäres Ereignis ist. Genau deswegen reagierten sie nur sehr zögerlich. Obwohl die Inflation in der Eurozone inzwischen bei mehr als 8 Prozent liegt, kündigte die EZB erst in der vergangenen Woche an, die Zinsen im Juli anheben zu wollen – das erste Mal seit 2011; um einen Viertelprozentpunkt. Für den Einlagenzins geht es von -0,5 auf -0,25 Prozent, in Worten: minus nullkommazweifünf Prozent.
Wenn Anleger sich nun „sorgen“, die Notenbanken könnten die Zinsen schneller anheben, dann muss die Frage gestattet sein, ob das Problem dadurch wirklich größer oder nicht eher kleiner wird. Ja, speziell in der Eurozone besteht die Sorge, ein zu kräftiger Zinsanstieg könne die ohnehin fragile Konjunktur abwürgen und zu einer Rezession führen.
Aber: Wenn die Nachfrage größer ist als das Angebot und die Inflation treibt, dann könnte eine sinkende Nachfrage möglicherweise Teil der Lösung sein. Auch wenn deutlicher steigende Zinsen die Anleihemärkte zunächst weiter belasten würden und Aktien unter Druck blieben. Aber das wäre eine Momentaufnahme. Für alle, deren Anlagestrategie langfristig ausgerichtet ist, wäre die Aussicht auf eine erfolgreiche Bekämpfung der Inflation eine gute Nachricht!
Insgesamt stellt sich die Situation für uns also weit weniger verfahren dar, als das Überschriften wie „Anleihen-Crash“ oder „Aktien-Bärenmarkt“ womöglich vermitteln. Sowohl die Anleihe- als auch die Aktienmärkte haben sehr viel heftiger reagiert als die Notenbanken selbst – und haben so bereits vieles vorweggenommen.
Schon deswegen sollte man eher hoffen – nicht fürchten – dass die Notenbanken endlich nachziehen. Während die EZB ihren ersten Zinsschritt lediglich angekündigt hat, sind die Renditen für 10-jährige Bundesanleihen seit August 2021 um mehr als 2 Prozentpunkte gestiegen. Italienische Staatsanleihen rentieren heute fast 3,5 Prozentpunkte höher als vor zehn Monaten. Das sind nur zwei Beispiele. Natürlich bedeuten diese Renditeanstiege empfindliche Kursverluste in einem Anleiheportfolio. Nicht vergessen werden aber darf, dass diesen Verlusten heute ganz andere Renditeperspektiven für die kommenden Quartale und Jahre gegenüberstehen.
Für Investments am Aktienmarkt gilt das genauso. Die steigenden Zinsen einerseits sowie die sich über die vergangenen Monate sukzessive eintrübende Stimmung andererseits haben die Bewertung von Aktien deutlich attraktiver gemacht. Einen Anleger, der heute sein Depot anschaut, mag das wenig trösten. Aber bei der Geldanlage liegt der Schlüssel in einem langfristigen Anlagehorizont. Deswegen ist auch Geduld so wichtig. Aber nicht nur das.
Weil kurzfristige Schwankungen der Preis für langfristigen, realen Kapitalerhalt sind, brauchen Anleger vor allem genügend Widerstandskraft, gegen die emotionale Versuchung auszusteigen, wenn der Wind von vorne bläst. Die Schlagzeile vom Bärenmarkt, die seit dieser Woche die Runde macht, könnte diese Versuchung befeuern und erzielt mit Sicherheit bei einigen Anlegern ihre Wirkung. Allerdings hilft hier möglicherweise ein Blick auf die Statistik. Ganz so schlecht, wie sie im ersten Moment auch klingt, ist die Nachricht vom Bärenmarkt nämlich gar nicht:
- In dem Moment, in dem man mit Sicherheit weiß, dass man sich in einem Bärenmarkt befindet, ist das Schlimmste schon ausgestanden.
- Seit dem Zweiten Weltkrieg ist dies bereits der 15. Bärenmarkt. Solche Phasen sind also nicht selten und kosteten im Schnitt etwa 30 Prozent.
- Aktuell liegt der S&P 500 bereits gut 22 Prozent unter seinem Hoch vom 3. Januar. Mit dem Erreichen der Marke von -20 Prozent geht es meist schnell. Im Schnitt dauerte ein Bärenmarkt, sobald er einmal offiziell bestätigt ist, „nur“ noch weitere 3 Monate.
Wen auch das nicht tröstet, den stimmt möglicherweise der Ausblick optimistisch. Ein Jahr nach dem Erreichen der -20 Prozent-Schwelle lag der S&P 500 im Schnitt wieder gut 20 Prozent höher.
Bleiben Sie Ihrer Aufteilung treu. Wir können die kurzfristige Zukunft auch nicht prognostizieren. Allerdings wären wir nicht überrascht, wenn es auch in diesem Jahr eine schnelle Gegenbewegung geben würde. Zur Erinnerung: 2020 – vor Ausbruch der Corona-Pandemie – stand der S&P 500 bei 3.400 Punkten. Bis Mitte des Jahres 2020 fiel der Index auf 2250 Punkte. Zum 31.12.2021 waren es 3750 Punkte – also ungefähr auf dem Niveau von heute. Wer drangeblieben ist, wurde belohnt. Das wird sich auch in Zukunft nicht ändern.
Viele Grüße aus Bückeburg
Ihr Stansch-Team